In diesem Kapitel kann ich Ihnen einige sperrige Begriffe und auch einige persönliche Bewertungen nicht ersparen. Es geht unter anderem um die rechtlichen Grundlagen für den Bau einer Eisenbahnstrecke darum, was wir wissen und was nicht. Auch wenn wir uns Stellvertreter in den Bundestag gewählt haben, so können diese da nicht alles tun, was sie mögen. Soweit reicht unser Vertrauen dann doch nicht, da wollen wir schon noch ein Wörtchen mitreden. Weil wir in einer funktionierenden Gesellschaft Regeln brauchen, haben wir solche auch für den Bau von Eisenbahnstrecken. Ist ja klar.
Nicht zuletzt brauchen wir Regeln, weil der Bau von Eisenbahnstrecken viel Geld kostet. So viel Geld, dass längst nicht alle Bauprojekte, die irgendjemand irgendwann vorgeschlagen hat, auch tatsächlich realisiert werden könnten. Und in der Tat sollten solche Investitionen ja auch einen Nutzen haben. Bringt ja nix, wenn man was baut, und dann nutzt das niemandem. Das Geld ist weg, und vielleicht hätte man damit ja doch noch kaputte Heizkörper und Wasserhähne in Grundschulen ersetzen, Freibäder geöffnet lassen, Krankenhäuser besser ausstatten können.
Beispiel? Falls Sie mal mit dem Rad durch Mecklenburg-Vorpommern fahren, dann kann es vorkommen, dass sie entlang einer sieben Kilometer langen tippi-toppi ausgebauten Ortsumgehung radeln und in den 30 Minuten, die sie unterwegs sind, fährt kein einziges Auto an ihnen vorbei. Ich habe gedacht: Da sollte ich nachfragen, ob das Geld nicht hätte auch anders investiert werden können.
Wir haben nicht den leisesten Hauch einer noch so bloßen Ahnung, wie sich diese Gesellschaft und in welcher Geschwindigkeit sie sich entwickelt. Wir haben nur vage Vorstellungen davon, wie mobil unsere Gesellschaft in 20, 30 oder 50 Jahren sein wird, oder muss, oder könnte. Vielleicht ist die technische Entwicklung soweit fortgeschritten, dass viele von uns von zuhause aus arbeiten und wir gar nicht mehr so oft wie heute von A nach B und zurück müssen oder wollen. Möglicherweise gibt es sogar W-Lan in Schulen und Weltfrieden.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel, von dem ich hoffe, dass es nicht allzu viele von Ihnen betrifft oder betreffen wird. Ich bin sechs Mal am Herzen operiert worden. Diese Operationen sind nicht ganz unkompliziert. Wäre ich – sagen wir – 1984 so erkrankt wie ich 2014 erkrankt bin, dann wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie diese Zeilen nicht lesen könnten, weil ich diese gar nicht mehr aufschreiben könnte. Ich habe in meinem Herzen mehrere Ersatzteile und einen kleinen Computer-Chip. Stents, eine künstliche Herzklappe und ein Gerät, das eine Mischung aus einem Herzschrittmacher und einem Defibrillator ist. Den Defibrillator haben mir brillante Ärzte in einer Klinik in Bad Oeynhausen eingesetzt.
Vor der Operation haben sich die Docs das Herz allerdings noch einmal genauer angeschaut, das geht heute so: Am Handgelenk (oder in der Leiste) wird ein Katheder eingeführt. Du hast dann in deinem Körper einen sehr sehr sehr dünnen Schlauch, an dem die Ärzte sich mit Hilfe eines noch dünneren Drahtes in Richtung Herz vorarbeiten. Dort können sie Kontrastmittel einspritzen und sich anschließend auf einem Röntgenfilm anschauen, was in deinem Herzen so los ist. Du liegst dabei allein in einem Operationssaal, der an ein Raumschiff erinnert. Die Ärzte sitzen etwa zehn Meter entfernt hinter einer Glasscheibe in einem Raum und bedienen den Katheder mit einer Art Joystick, also so ein Ding, das wir von Computerspielen kennen. Rein theoretisch könnten diese Ärzte statt zehn Meter entfernt von ihrem Patienten wohl auch in Helsinki oder Hongkong sitzen, um den dünnen Draht zu meinem Herzen zu führen. Anders rum: Die Ärzte aus Bad Oeynhausen könnten so theoretisch auch Patienten in Helsinki oder Hongkong versorgen.
Dinge ändern sich also, wir nennen das in der Regel Fortschritt. Vielleicht gibt es weitere Pandemien, die uns immer häufiger an unsere Zuhause binden. Vielleicht setzt sich die Erkenntnis durch, dass wir Fleisch, Milch, Käse und Eier auch beim Bauern nebenan kaufen oder selbst anbauen können und nicht für immer weniger Cent in Supermärkten, zu dem wir mit dem Auto fahren. Möglicherweise sind der Sprit oder der Strom so teuer, dass die Mehrheit von uns sich Autofahren nicht leisten kann. Vielleicht können wir in 30, 50 oder 70 Jahren gar nicht mehr von Berlin nach Amsterdam oder von Hannover nach Cuxhaven reisen, weil die Erderwärmung so weit fortgeschritten ist, dass einige Landstriche schon überflutet sind.
Ich weiß das nicht. Was ich aber weiß: Wann immer jemand mit dem Brustton der Überzeugung behauptet, er wisse wie wir in 20, 30 oder 50 Jahren leben, wohnen und arbeiten, werde ich skeptisch, gar misstrauisch und überlege länger, aus welchen Gründen jemand ein solches Argument in eine Diskussion einbringt und welche Qualifikation er hat.
Diskussionen im 21. Jahrhundert sind häufig dadurch geprägt, dass sie sich auf das Recht haben reduzieren. Auch das müssen wir im Hinterkopf haben, wenn wir uns mit unserem Thema befassen. Das erinnert mitunter an diese Nachbarschaftsstreite, die damit beginnen, dass ein Apfel auf die falsche Gartenseite gefallen ist und die dann letztlich von einem Bundesverfassungsrichter entschieden werden müssen. Das liegt auch daran, dass Sie und ich im 21. Jahrhundert an jeder Ecke der alten und der neuen medialen Welt einen Experten finden, der genau das sagt, was Sie gerne hören möchten. Dazu kommt: Wir neigen dazu, uns selbst als Experten zu sehen. Und selbst wenn jedes Argument mehrfach und dauerhaft durch Fakten widerlegt ist, wird es noch Menschen geben, die auf ihrer Meinung beharren.
Dieses Selbstexpertentum ist uns nicht fremd. Schließlich wissen alle von uns, die mal hinter gegen einen Ball getreten haben, dass Joachim Löw noch nie die richtige Mannschaft aufgestellt hat. Das ist auch gut so. Schlecht ist es aber, wenn sich – um im Themenfeld zu bleiben – Menschen wie Karl-Heinz Rummenigge öffentlich zum Experten für das Grundgesetz, Corona-Pandemien oder Menschenrechte in Nahost-Staaten aufschwingen. Die Vermutung liegt nahe, dass eine abgebrochene Ausbildung zum Bankkaufmann und 50 Jahre Leben in der Parallelwelt des Profifußballs dafür nicht als Qualifikation ausreichen.
Ich will sagen: Glauben Sie nicht jedem alles, seien Sie vorsichtig. Schauen Sie sich mehr als die Schlagzeile an. Damit meine ich Politiker genauso wie Vertreter von Bürgerinitiativen, Lobby-Gruppen, Interessenverbänden und einige Medien. Es hat noch nie geschadet, eine zweite oder dritte Meinung einzuholen oder sie zumindest zu betrachten, um sich über ein Thema zu informieren. Es soll sogar immer noch Medien geben, in deren nachrichtlichen Artikeln oder Beiträgen eine zweite Stimme Pflicht und eine dritte mehr als die Kür ist.
Was es nicht einfacher macht: Das Bewerten von Nachrichten ist zumindest in den vergangenen 40 Jahren, die ich einigermaßen überblicken kann, schwieriger geworden. Sie und ich müssen heute nicht mehr nur den reinen Inhalt einer Nachricht bewerten, sondern häufig auch die Frage stellen, warum wer was gerade jetzt gesagt hat oder es für die Öffentlichkeit aufschreibt. Gleichzeitig müssen wir bewerten, welchen Aufschreibern und welchen Medien wir vertrauen können, und welchen nicht, auf welche wir uns verlassen können, und auf welche nicht. Das ist auch bei unserem Thema so. Dazu später noch mehr, das kann und will ich Ihnen nicht ersparen.
Sie und ich müssen uns darüber hinaus auch damit befassen, dass sich Sprache verändert und manipuliert wird. Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Wenn Spitzenpolitiker in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu Wahlen antraten, dann haben sie häufig ein sogenanntes Schattenkabinett benannt, also die Männer und Frauen, die sie und ihre Partei im Falle einer Wahl als Minister in die Regierung berufen wollen. Schattenkabinett ist ein nachvollziehbarer Begriff, und es ist nicht falsch ihn zu verwenden. Mit dem ersten Bundestagswahlkampf im neuen Jahrtausend – das war die Wahl Schröder gegen Stoiber im Jahr 2002 – wurde bei der CDU/CSU aus dem gebräuchlichen Schattenkabinett das „Kompetenzteam“. Meint das Gleiche, klingt aber in den Ohren von Wahlkampfberatern und vermutlich auch Politikern besser. Wenn wir ein bis zwei Sekunden darüber nachdenken, dann kommen viele von uns allerdings zu der Erkenntnis, dass wir von einem, der eine Regierung führen will, nicht wirklich etwas anderes erwarten als kompetente Männer und Frauen an die Spitze eines Ministeriums zu berufen. Zeitungen fanden damals Kompetenzteam offenbar schicker als Schattenkabinett und haben den Begriff gerne transportiert. Googlen sie das mal, ist spannend.
Zu den Wortungetümen
Damit die DB Netz AG eine neue Bahnstrecke bauen kann, braucht sie gesetzliche Grundlagen. Das muss – sagt der Deutsche – alles seine Ordnung haben. Ist ja klar, wir können ja nicht einfach alle irgendwo eine Bahnstrecke bauen, weil uns das gerade in den Kram passt, sondern müssen uns vorher zumindest anhören, was andere darüber denken. Für Menschen, die nicht tagtäglich Amtsdeutsch denken oder sprechen, ist das häufig eine ambitionierte Aufgabe.
Ich weiß jetzt nicht, wer oder wie viele von Ihnen schon mal einen Rentenantrag stellen mussten, weil sie erwerbsunfähig geworden sind – ein dreijähriges Fachhochschul-Studium in Verwaltungsrecht würde dabei sicher nicht schaden. Und machen Sie bloß nicht und auf gar keinen Fall auf Seite 58c, Paragraph 3, Abschnitt a, Unterabschnitt Y ein Kreuzchen an der falschen Stelle.
So oder so ähnlich ist das auch mit dem Bau von Eisenbahnstrecken. Gehen wir es an. Aber nicht mehr heute, am 12. Februar.
Fortsetzung folgt