Ein kurzer Pinselstrich – und zack, die „5“ ist weg. Ich sitze seit etwa drei Stunden mit einem Pinsel in der Hand in der Bundesbahn-Schilderwerkstatt in Hannover-Leinhausen. Ich tunke ihn in eine chemikalische Flüssigkeit, einmal rauf und einmal runter, und dann steht auf dem Plastikband, das vor mir liegt, nicht mehr 12:15, sondern 12:1 . Bei der Bundesbahn ist bald Fahrplanwechsel; mein Ferienjob im Hochsommer 1980 ist es, Minuten auszulöschen. Das bearbeitete Band kommt später in die Siebdruckerei und läuft – mit dann schicken neuen Minutenangaben – irgendwann wieder auf dem Hauptbahnhof durch einen Kasten, so dass die Bahnfahrer sehen können, wann der nächste Zug abfährt. Die Älteren unter uns mögen sich erinnern.
Ich habe auf diese Weise in vier Wochen sehr sehr sehr viele Minuten um die Ecke gebracht. 1980 rattern noch Schnell-, Eil- und Nahverkehrs-Züge durch die deutschen Lande. Alle Verbindungen sind ordentlich in einem dicken Band zusammengefasst – dem Kursbuch. In solchen Kursbüchern habe ich wenige Jahre später häufiger gelesen – während meiner Bundeswehrzeit. Die Verwaltung eben dieser Bundeswehr war auf die Idee gekommen, dass der Soldat Kater am besten in Kasernen in der Eifel und an der Landesgrenze zwischen dem Saarland und Rheinland-Pfalz aufgehoben ist.
Ohne Kursbuch kommste 1980 nicht wirklich weit oder vorwärts, weil Du umsteigen musst, wenn Du aus der niedersächsischen Provinz zu einem Kasernen-Dorf wie Ulmen oder Birkenfeld an der Nahe willst. Kirchhorsten-Minden-Bielefeld-Dortmund-Köln-Gerolstein-Ulmen war eine der Strecken; Kirchhorsten-Hannover-Frankfurt-Mainz-Bingen-Bad Kreuznach-Neubrücke/Nahe eine andere. Das musste schon passen, mit den Anschlüssen und dem Fahrplan; sonst gab es Vieraugengespräche mit Feldwebeln plus Wochenenddienste – das war nix, was man haben musste.
Heute ist das bekanntlich anders. Zwei, drei Klicks auf die Bahn-App im Mobiltelefon, und schwuppdiwupp steht zu lesen, wie und wann die Bahn fährt und von welchem Gleis. Ihre gesammelten Kursbücher können sie heute in den Papierkorb werfen oder für 100 Euro in einem Internet-Portal zum Verkauf anbieten. Die Deutsche Bundesbahn ist 1994 – also fünf Jahre nach der Wende – mit der Deutschen Reichsbahn zur Deutsche Bahn AG geworden. Es gibt vermutlich auch keine Bundesbahn-Schilderwerkstatt-Ferienjob-Hilfsarbeiter mehr, die mit Hilfe von Pinseln und Chemie Ziffern auslöschen. Wir merken uns an dieser Stelle bitte: Dinge ändern sich.
Heute sitzen Fahrplan-Planer vor Computer-Bildschirmen und arbeiten mit Computer-Programmen, die von Menschen entwickelt worden sind, die vermutlich im Nebenberuf Sonden auf den Mars schicken oder ausrechnen können, wie viel Geld Robert Lewandowski in einer Minute verdient oder Ulrich Hoeneß für Aktien ausgegeben hat.
Diese und andere Menschen haben sich was ausgedacht, dass das Bahnfahren verändern wird. Dieses Neue heißt: Deutschland-Takt. Bevor ich in den Lokalzeitungsjournalisten-Übersetzungs-Modus umschalte, anempfehle ich dieses Werbevideo, das im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums erstellt worden ist…
Angeschaut? Wenn nicht, ist auch nicht schlimm. Fassen wir es mal für alle zusammen:
• Der Deutschland-Takt ist ein Modell, um Zugverbindungen zu planen. Ein solches Modell gibt es bereits – zum Beispiel in der Schweiz.
• Dabei geht es nicht nur um den Fahrplan, sondern auch um den möglichen Ausbau von Strecken.
• Der Unterschied des Deutschland-Takts zu heute ist, dass sich die Strecken nach dem Fahrplan richten müssen, nicht umgekehrt.
• Das bedeutet vereinfacht gesagt, erst wird der Fahrplan erstellt, dann wird geschaut, ob man Strecken ausbauen muss, um diesen Fahrplan zu erreichen.
• Der Deutschland-Takt soll bis 2030 fertiggestellt sein. Drei Entwürfe liegen bereits vor.
• Deshalb wissen wir, dass auch der Aus- oder Neubau der Strecke zwischen Hannover und Bielefeld dazugehört.
• Verkehrsministerium und Bahn AG argumentieren, dass sich die Zahl der Fahrgäste von heute 7 Millionen Menschen täglich verdoppeln soll.
Der wohl wichtigste Bestandteil des Deutschland-Takts ist der Taktfahrplan. Das geht theoretisch so. Über das Land werden sogenannte Knotenpunkte eingerichtet. Dort treffen Züge stündlich oder halbstündlich immer zur selben Minute ein und fahren immer zur selben Minute auch wieder ab. Sagen wir mal als Beispiel: Von Hannover aus könnten Sie dann immer zur selben Minute einer Stunde nach Berlin, nach München, nach Hamburg oder nach Bielefeld fahren. Deshalb müssen diese Knotenpunkte entweder 30, 60 oder 90 Minuten auseinanderliegen – und pünktlich ankommen.
Heute braucht der Zug von Hannover nach Bielefeld 48 oder 49 Minuten, mit einer neuen Strecke soll diese Zeit auf 31 Minuten reduziert werden. Ein solcher Zeitgewinn soll durch kleinere Umbauarbeiten auch in Richtung Berlin erzielt werden. Von Hannover nach Berlin über VW-Stadt soll es mit dem Deutschland-Takt nur noch 89 Minuten dauern, heute sind es 103. Wenn Sie das jetzt zusammenrechnen, dann sehen sie, dass die Fahrtzeit zwischen den beiden Knotenpunkten Bielefeld und Berlin genau 120 Minuten beträgt. Das würde die Bedingungen des Plans also erfüllen.
Die, die sich das ausgedacht haben, sagen auch, dass sich so die Zubringerzüge und auch der Güterverkehr deutlich besser steuern lassen. Auch dort würde dann gelten, dass ein Regional-Express oder eine S-Bahn immer zur selben Zeit an einer Station abfahren würde, um pünktlich einen Knotenpunkt zu erreichen. Der Deutschland-Takt soll so auch die Umsteigezeiten auf 15 Minuten verkürzen.
Wenn Sie sich in das Thema vertiefen wollen:
Felix Thoma hat das in einem → Artikel gut erklärt
Das Bundesverkehrsministerium bietet Ihnen auch einige Information an.
Und zwar auf dieser → Website. Da gibt es zum Beispiel auch diese Grafik…
210104_Infografik_Taktfahrplan
So bis später. Fortsetzung folgt.